Heute besprechen wir mal wieder etwas älteres Material. Etwas älter? Die mir vorliegende 2. Auflage des zu besprechenden Szenarios „Narrenball“ ist immerhin aus dem Jahre 1995; die Erstauflage von Laurin datiert sogar aus dem Jahr 1992. Entsprechend haben wir heute eine echte Antiquität auf dem Tisch! Bevor Ihr weiterlest ist es wohl angebracht, eine Spoilerwarnung auszusprechen – was somit auch erledigt ist!
Beim Band Narrenball handelt es sich um die Übersetzung des Abenteuers „Tatterdemalion“ der Autoren Richard Watts und Penelope Love; für die deutsche Ausgabe wurden außerdem einige Mythosbuch-Vorstellungen von Wolfgang Schiemichen ergänzt. In dem Abenteuer werden die Charaktere von dem exzentrischen Künstler und Lebemann Steinmann auf einen Ball eingeladen. Was niemand ahnt – er hat ausschließlich persönliche Feinde auf den Ball eingeladen und verfolgt einen perfiden Plan. Dieser umfasst die Ermordung einiger Gäste und die Aufführung des Stückes „Der König in Gelb“ zur Mitternacht, um die versammelten Intimfeinde in den Wahnsinn zu treiben. Es bleibt zu hoffen, dass die Charaktere der verrückten Spielmannstruppe und ihrem Anführer Einhalt gebieten können – auch, wenn ihnen der König in Gelb persönlich gegenüberstehen sollte…
Das Abenteuer läßt sich grob in zwei Teile splitten: eine eher detektivisch angehauchte erste Hälfte, in der die Umtriebe des einladenden Steinmann aufzudecken sind und eine unglaubliche Reise in das ferne Carcosa, in der die Charaktere auf den König in Gelb höchstpersönlich treffen werden.
Wie immer möchte ich erst das Erscheinungsbild des Bandes besprechen. Das Buch umfaßt 44 Seiten, weist klare Strukturen und eine gut lesbare Schrift auf und ist sowohl mit zeitgerechten Photographien für die in Berlin spielenden Szenen als auch mit surreal wirkenden Zeichnungen für die Szenen in Carcosa ausreichend bebildert. Beigefügt sind außerdem ein paar wirklich schön aufgemachte Handouts wie Zeitungsausschnitte oder Einladungskarten für Steinmanns Maskenball. Für den handwerklichen Teil gibt es eine gute Note, die einzig durch das doch gewöhnungsbedürftige Titelbild kleine Abstriche erhält.
Wie so oft ist die inhaltliche Kritik die schwerwiegendere. „Narrenball“ gilt heutzutage als Klassiker und es weist auch einige sehr gute Ideen vor: die Szenen während des Balls, die plötzlichen Mordfälle, die gesamte Anlage des Hauses… all das gehört zu den stimmungsvollsten Szenen in einem Cthulhu-Abenteuer, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. Die erste Hälfte des Abenteuers ist in meinen Augen ein kleines Meisterwerk.
Auch der Teil in Carcosa vermag auf der einen Seite zu glänzen: die Beschreibung ist ausreichend surreal gehalten, um dem Spielleiter die Fremdartigkeit Carcosas vor Augen zu führen. Auch ist dieser Teil für die Spieler sicherlich eine einmalige Erfahrung. Hier krankt das Abenteuer meines Erachtens aber an zwei Dingen: das erste ist extremes Railroading. Folgt man nicht einer bestimmten Spur endet man als Geist in Carcosa. Punkt. Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die Auflösung des Abenteuers: wer als Zaubersprüche schleudernder Superheld, der „Ältere Zeichen“ verteilen kann wie andere Bonbons an Karneval und sich fröhlich in Dimensionstore stürzt (oder sie eben selbst erschafft, sollte grade keines zur Hand sein) – der hat realistische Chancen, das Abenteuer unbeschadet zu überstehen. Nur trifft das eben leider auf die wenigsten Cthulhu-Charaktere zu! Die Stabilitätsverluste in Carcosa sind enorm angelegt und wer mit „normalen“ Charakteren spielen will, der ist schon sehr auf die Gutmütigkeit – und Flexibilität – des Spielleiters angewiesen.
Ein Fazit: Mit ein wenig Arbeit – und die wird nötig sein, um das Abenteuer der eigenen Gruppe anzupassen – hat man hier ein hervorragendes Abenteuer vorliegen, dass nur aufgrund seiner Mängel im zweiten Teil an der Höchstnote vorbeischrammt.
Noch mehr Spoiler gingen wohl nicht in die Rezension einzbauen? 😉
Zudem: Das Abenteuer ist mit Köpfchen zu lösen. Zaubersprüche sind nicht erforderlich.
Dass die Auswirkungen von bestimmten Zaubersprüchen beschrieben werden, zeugt für mich von gutem Abenteuerdesign. Im Gegensatz zu einem deutschen Rolelnspiel, das nicht genannt werden soll, fürchten sich die Autoren offenbar nicht vor den Auswirkungen mächtiger Charakterfähigkeiten auf den Plot!
Das mit den Spoilern gebe ich unumwunden zu 🙂
Ich hatte beim Lesen schon den Eindruck, dass abstruse Zauberfertigkeiten einen derart großen Vorteil verschaffen, dass es für den Ottonormalsterblichen schwer werden könnte… allerdings hast Du sicher recht, wenn Du sagst: mit Köpfchen geht es auch. Nur denke ich, wie schon beschrieben, dass da viel Improvisationsfähigkeit des SL gefragt ist…
btw: von welchem Rollenspiel sprichst Du denn da…?
Zu Risiken und Nebenwirkungen: Lesen Sie NICHT den SPOILER, denn sonst hilft Ihnen weder Arzt noch Apotheker.
Sehr gute Rezension. Danke. Kurz und knapp.
Ich beschäftige mich gerade mit der Hastur-Thematik.
Habe das Szenario seinerzeit selbst gespielt und sehr gut in Erinnerung. Werde es demnächst leiten, aber den Inhalt nach den Ereignissen im Haus, auch stark kürzen.
Huhu!
Die Neugier treibt mich! – Ich habe lediglich das Original Tatterdemalion vorliegen (aus Fatal Experiments). Dort steht im Abenteuerüberblick über Carmichael: „There a sudden interest in incunabula helped him recover, but also led him to track down and read a copy of the legendary The King In Yellow. […] was published in Paris in 1893“.
Die Datierung stimmt, jedoch kann das Stück dann niemals eine Inkunabel sein, weil sie dann bis spätestens 1500 hätte gedruckt sein müssen. Und nun interessiert mich: Hat es diese Stelle so auch ins Deutsche, in den Narrenball, geschafft?
Danke!
Hi Manfred!
Sorry, das musste ich erstmal recherchieren.
Also, Carmichael heißt in der deutschen Ausgabe wohl „Steinmann“, aber ich gehe davon aus, die richtige Stelle gefunden zu haben. Das steht:
„…begann er sich für frühe Buchdrucke zu interessieren…“ und „Als 1893 dieses geradezu fabulöse Stück (…) zum ersten Mal in Paris veröffentlicht wurde“.
Also, kein Wort von „Inkunabel“; „früher Buchdruck“ ist 1893 (insbesondere aus der Sicht der 1920er :-)) allerdings auch nicht wirklich :-). Aber es ist wohl „richtiger“.
Viele Grüße